18./19. Kislev 5781 – 4./5. Dezember 2020
Schabbateingang Jerusalem (Kerzenzünden) 15:55
Schabbatausgang Jerusalem 17:14
ב“ה

Jeder Absatz dieses Wochenabschnittes schildert ein Familiendrama. Die Dramen der Vergangenheit, die sich, sieht man vom Mord Kains an Abel ab, eher auf der verbalen und emotionalen Ebene abspielten, werden nun durch teils brachiale Gewalt abgelöst. Jakob vertritt die dritte Generation nach Abraham, seine Kinder und Kindeskinder legen den Grundstein für das von Gott prophezeite grosse Volk.
Der Weg dahin ist durch Gewalt innerhalb der Familie, aber auch von aussen geprägt.
In der vergangenen Woche haben wir Jakob und seine Grossfamilie während seines Aufenthaltes in Haran begleitet. Nach zwanzig Jahren in den Zelten seines Onkels Laban kehrt er nun nach Hause zurück. Aus dem unreifen jungen Mann, der allein und arm ankam, ist in der Zwischenzeit ein wohlhabender Mann geworden. Aus dem Single wurde ein Vater von 11 Söhnen und einer Tochter, von zwei Ehefrauen und zwei «Nebenfrauen».
Offensichtlich fühlt sich Jakob jetzt als gereifter und selbstbewusster Mann in der Lage, sich mit seinem Bruder Esau, vor dem einst geflohen war, zu treffen und mit ihm zu versöhnen. Aber er ist sich nach wie vor unsicher, wie Esau sich ihm gegenüber verhalten wird.
Esau kommt ihm in Begleitung von 400 Männern entgegen. Jakob wird angst und bange. Seine schlimmsten Befürchtungen scheinen sich zu bewahrheiten. Um nach einem Angriff nicht alles zu verlieren, teilt er sein Hab und Gut auf zwei Lager auf. So hofft er, wenigstens eines der zwei Lager retten zu können.
Jakob fleht Gott an, sich doch des ihm gemachten Versprechens zu erinnern und zu verhindern, dass seiner Familie und ihm Schaden zugefügt wird.
In der Hoffnung, seinen Bruder zu besänftigen, lässt er ihm grosszügig zusammengestellte Herden durch Knechte entgegenführen.
Jakob bringt seine Familie und seinen Besitz über den Jabbok Fluss und kehrt allein an das andere Ufer zurück. Dort kämpft er während der gesamten Nacht bis zum Morgengrauen mit einem Mann. Der Kampf endet unentschieden. Zuletzt schlug der Unbekannte derart heftig auf Jakobs Hüfte, dass sie sich ausrenkte, er wollte den Kampf offensichtlich mit dem anbrechenden morgen beenden. Jakob liess aber nicht ab von ihm und verlangte, von ihm zuvor gesegnet zu werden.
Eine seltsam anmutende Forderung. Hat Jakob gespürt, dass es Gott war, mit dem er gekämpft hatte? Noch seltsamer ist die Reaktion des Fremden. «Nicht mehr Jakob wird man dich nennen, sondern Israel (Gottesstreiter); denn mit Gott und Menschen hast du gestritten und hast gewonnen.» Statt Israel seinen Namen zu sagen, segnete er ihn und verschwand. Das Wort «mit» könnte einen Hinweis darauf geben, dass Jakob den Angreifer kannte und sie einander ebenbürtig zumindest an physischer Kraft waren. Kämpft man «miteinander», legt man neue Positionen fest, es muss keinen Sieger geben. Kämpft man aber «gegeneinander», so muss es einen Sieger und einen Verlierer geben.
Hat der Kampf tatsächlich stattgefunden, oder ist er das Symbol für einen inneren Kampf, den Jakob mit sich ausfocht? Ist es der Versuch, in einem nächtlichen virtuellen Kampf einen Gegner zu besiegen? Sei der Gegner nun er selbst, oder Esau. Immerhin fürchtet er sich sehr vor dem Treffen mit seinem Bruder, dem er einen grossen Schaden zugefügt hatte. Oder war der Kampf einer, den er mit Gott hatte? Tags zuvor hatte er sich bitter beklagt, dass er sich von ihm verlassen fühle. Der Kampf endet, wie so viele unserer Albträume mit dem anbrechenden Morgen und der Helligkeit. Israel kann das Dunkel der Nacht, aber auch das Dunkel in sich selbst hinter sich lassen und in eine helle Zukunft schauen. Israel ist Sieger und Verlierer zugleich, er hat einen Segen erhalten, einen neuen Namen, den bald darauf ein ganzes Volk tragen wird, aber auch eine andauernde Gehbehinderung, die ihn immer an seine Stellung Gott gegenüber erinnern wird.
Gleich im Anschluss an den Kampf treffen Esau und Israel aufeinander. Immer noch hat Israel die grössten Bedenken, wie sich ihr Verhältnis zueinander gestalten wird. Während er die Kinder und Frauen schützen lässt, wirft er sich siebenmal vor ihm nieder. Wieder einmal die Zahl sieben als Zeichen der Vollendung. Es scheint, als wolle er sich seinem Bruder demütig und reuevoll völlig unterwerfen. Nicht nur er, auch seine Frauen, Kinder und Knechte unterwerfen sich ihm. Doch Esau nimmt ihn liebevoll wieder in sein Leben.
Israel kehrte nach Kanaan zurück und siedelte dort in Sichem, Hebräisch Sh‘chem, heute Nablus.
Hier entwickelt sich eine dramatische Geschichte um Dina, die einzige Tochter Israels. Sie ist wohl mittlerweile ein junger Teenager, langweilt sich mit ihren Brüdern und beginnt, sich den Töchtern des Landes anzuschliessen. Dina, sehr selbstbewusst, stellt eine erotische Herausforderung an die jungen Männer und insbesondere an den Fürstensohn Sichem dar.
Er vergewaltigte Dina und erst dann anschliessend, verliebte er sich in sie. Er bittet seinen Vater an seiner statt um ihre Hand bei Israel zu bitten.
Erst wenn alle Männer beschnitten sind, so wird Hamor aufgeklärt, könnten Bindungen zwischen den Völkern eingegangen werden. Sichem und sein Vater Hamor scheinen die Forderungen Israels zu verstehen und stimmen zu der Beschneidung zu. Hamor und Sichem besprachen sich mit ihren eigenen Männern. Und so geschah es, dass schliesslich alle Männer aus Sichem der Bedingung Folge leisteten.
Während die Männer noch ihrer Heilung entgegenfieberten, wurden sie von Simon und Levi, zwei Brüdern Dinas, überfallen. Sie ermordeten alles Männliche in der Stadt, töteten auch Hamor und Sichem. Anschliessend befreiten sie Dina und verliessen die Stadt.
Zeigen die Brüder oder gar der Vater Mitleid mit der geschändeten Dina? Mit keinem Wort. Im Gegenteil, Israel ist nur bedacht auf den guten Ruf der Familie und auch die Brüder fühlen sich in ihrer Ehre angegriffen. Israel wendet sich zornig an Simon und Levi. Er wirft ihnen vor, den guten Ruf seiner Familie völlig ruiniert zu haben und fürchtet, dass sie nun ihrerseits zu Opfern von Racheakten werden könnten. Besonders fürchtet er, dass Gott ihm den Segen entziehen und seine Versprechungen nicht wahr machen könnte. Die Vergewaltigung seiner einzigen Tochter ist ihm kein Wort wert. Kein Mitleid, keine liebevolle Zuwendung.
Das weitere Leben Dinas versinkt in der Dunkelheit. Meine Lieblingsperson in der Torah wird aus dem gesamten weiteren Geschehen herausgenommen. Dina, die vierte Generation der Stammmütter nach Sarah, Rebekka, Lea und Rachel, wird es versagt, diese Position einzunehmen. Während ihre Ahninnen nach mehr oder langer Zeit der Kinderlosigkeit schwanger wurden und damit ihre gesellschaftliche Aufgabe erfüllten, bleibt ihr die Möglichkeit, im Familienverband Kinder zu gebären, versperrt. Dina darf nicht Stammmutter werden, sie wird aus allen Erzählungen der Torah verbannt. Gewalt an Frauen wurde damals ebenso wie heute zu wenig thematisiert. Im Midrasch jedoch, ist Dina nicht vergessen. Wer mehr über sie lesen möchte, findet hier einen interessanten Kommentar.
Die Torah erzählt nicht, wie die Geschichte weitergeht. Sie bricht hier einfach ab.
Offensichtlich hat sich Gott nicht abgewandt von Israel, denn er fordert ihn auf weiterzuziehen und ihm, der ihm auf seiner Flucht vor Esau erschienen ist, einen Altar zu bauen.
Israel beschliesst, nun endgültig mit den fremden Götzen zu brechen und verlangt von Familie und Nachbarn die Herausgabe von allen Götter Figuren und vergrub sie unter einer Eiche in Sichem. Auch seine Frau muss wohl ihre dem Vater gestohlenen Götzenbilder herausrücken.
Israel konnte seine Familie und allen die dabei waren, ungehindert an den Ort bringen, an dem sich Gott ihm zu Beginn der Flucht im Traum mit der Leiter – wir haben davon vor zwei Wochen gelesen – offenbart hatte. Dort baute er, wie von Gott gefordert, einen Altar.
Gott erscheint Israel nochmals und wiederholt seinen Segen und die Namensänderung von Jakob auf Israel ebenso wie auch seine Prophezeiung.
Nur kurze Zeit nach dem Aufbruch aus Beth El in der Nähe des heutigen Bethlehems fühlte Rachel, dass ihre letzte Geburt bevorstand. Bevor sie starb, gab sie ihrem Sohn den Namen Benjamin, i.e., Sohn der Rechten. Das Grab vonRachel, der letzten Stammmutter, liegt nicht wie das der anderen Stammväter und -mütter in der Höhe Machpela in Hebron, sondern an der Strasse zwischen Jerusalem und Bethlehem.
Am letzten Ort seiner Reise angekommen, kam Israel wieder in Mamre, dem heutigen Hebron, bei seinem Vater Isaak an. Dieser verstarb und wurde von seinen zwei Söhnen, Esau und Israel begraben. Über Rebekkas Schicksal erfahren wir nichts mehr, sie war wohl bereits verstorben. Ihre Strafe für den Frevel an ihrem Mann war, dass sie beide Söhne nie mehr sehen durfte und nicht erlebte, dass sie sich versöhnt hatten.
Shabbat shalom!
© esther scheiner, israel