17./18. Tevet 5781 1./2. Januar 2021
Schabbateingang in Jerusalem: (Kerzenzünden) 16:06
Schabbatausgang in Jerusalem: 17:27
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Am Ende des letzten Wochenabschnittes hatte Israel Pharao eine befremdliche Antwort auf die Frage nach seinem Alter gegeben: «Die Zahl der Jahre meiner Pilgerschaft beträgt hundertdreißig. Gering an Zahl und unglücklich waren meine Lebensjahre und sie reichen nicht heran an die Lebensjahre meiner Väter in den Tagen ihrer Pilgerschaft.» Der Anfang dieses Wochenabschnittes nimmt noch einmal Bezug darauf. «Jakob lebte noch siebzehn Jahre in Ägypten und die Tage Jakobs, seine Lebensjahre betrugen hundertsiebenundvierzig Jahre.»
Waren es gute oder schlechte 147 Jahre, die das Leben des Menschen Israel ausmachten?
Seine Familie war gewachsen, jedes Familiendrama, jedes Unglück hatte eine gute Wendung erfahren. Es waren nur die «normalen» Schicksalsschläge, die er hatte verkraften müssen. Die, von denen die Gesellschaft erwartet, dass man nach einer angemessenen Trauerzeit wieder funktioniert.
Das äussere Leben Israels darf als Erfolgsgeschichte gewertet werden.
Aber hat nicht jeder von uns zwei Leben? Ein äusseres, für jeden Aussenstehenden sichtbares und ein inneres, das nur wir selbst kennen? Und das wir so oft verleugnen, verdrängen?
Gibt es nicht immer Brüche in unserer Lebenslinie? Eine Enttäuschung, die man kaum verwinden kann? Den Verlust einer grossen Liebe? Das Nicht-Erfüllen von unausgesprochenen Träumen? Die Verletzung oder der Vertrauensbruch durch Menschen, die einem besonders nahestehen? Momente, nach denen nichts mehr so ist wie vorher.
Israel hat viele derartige Erfahrungen gemacht. Die Erpressung seines Schwiegervaters Laban, bevor er seine innig geliebte Rachel heiraten durfte. Den Betrug in der Hochzeitsnacht, als er erkannte, dass nicht seine geliebte Braut neben ihm lag, sondern deren Schwester. Der Betrug seines erstgeborenen Sohnes Reuven mit seiner Nebenfrau Bilha. Der frühe Kindbetttod seiner geliebten Rachel? Die Vergewaltigung seiner einzigen Tochter Dina. Der scheinbare Tod seines geliebten Sohnes Josef … Dazu seine eigenen Missetaten an seinem Bruder und an seinem Vater.
Kurz vor seinem Tod verspürt Israel den Wunsch, sein Leben in Ehrlichkeit zu sich selber zu beenden.
Möglicherweise hatte er sich in Ägypten nie wirklich daheim gefühlt, wir wissen es nicht, aber wir können es vermuten.
Deshalb nahm er seinem Sohn Josef den Schwur ab, ihn nicht in Ägypten zu beerdigen, sondern in der Höhle Machpela, wo schon seine Vorfahren ruhten. Er erinnert sich an den Kampf mit Gott in der Nacht, bevor er wieder auf seinen Bruder Esau traf. Seither war er durch einen Schlag auf die Hüfte gehbehindert. Das war die Nacht, in der er von Jakob zu Israel wurde. Mit dem Schwur, den er seinen Sohn Josef mit der Hand an der Hüfte leisten lässt, übergibt er ihm quasi die Verantwortung für den Clan. Aber er hat auch Angst, dass seine Söhne, die sich so umfassend und erfolgreich in Ägypten integriert haben, ihre Wurzeln vergessen und nie mehr nach Hause zurückkehren würden. Mit dem Schwur, den er Josef abverlangt, stellt er sicher, dass seine Familie einst nach Kana’an zurückkehren und die Prophezeiungen Gottes erfüllen würde.
In einem letzten Gespräch erbittet er von Josef dessen beiden ältesten Söhne, Efraim und Menashe. Er stellt sie in der Familienhierarchie auf eine Stufe mit seinen eigenen ältesten Söhnen Reuven und Shimon. Er segnet seine Enkelsöhne, wobei ihm scheinbar ein Fehler unterläuft. Josef hatte seine Söhne so vor ihn gestellt, dass Efraim an seiner rechten Seite stand und Menashe an seiner linken. Damit wollte er sicherstellen, dass sein Vater mit seiner rechten Hand seinen erstgeborenen Menashe, segnen könnte. So sah es die Tradition vor. Doch Israel überkreuzte seine Hände, um den Erstgeborenen-Segen Efraim zu geben. Wir erinnern uns an den jungen Jakob, der sich mit einer List den Segen seines Vaters Isaak erschlichen hatte. Soll sich die Geschichte nun wiederholen? Zwar ist das Augenlicht Israels schon sehr geschwächt, aber es scheint, als würde er diese Entscheidung getroffen haben, ohne sehen zu können. Es ist die Hand Gottes, die seine Hand führt. Gott, auf den er blind vertraut und dessen Entscheidungen er nie mehr infrage stellen würde.
Josef versucht, den Segen, der seinem Ältesten zusteht, für ihn zu retten. Aber sein Vater macht klar, dass er genau weiss, was er tut. Er betont es doppelt! «Ich weiß, mein Sohn, ich weiß», sagte er, «auch er wird zu einem Volk, auch er wird groß sein; aber sein jüngerer Bruder wird größer als er und seine Nachkommen werden zu einer Fülle von Völkern.Mit deinem Namen wird Israel segnen und sagen: Gott mache dich wie Efraim und Menashe.»
Ist dies der Hinweis darauf, dass erstmals in der Geschichte zwei Geschwister nicht miteinander konkurrieren werden? Sich nicht gegenseitig bekämpfen?
«Gott, vor dem meine Väter Abraham und Isaak ihren Weg gegangen sind, Gott, der mein Hirte war mein Lebtag bis heute, der Engel, der mich erlöst hat von jeglichem Unheil, er segne die Knaben. Weiterleben soll mein Name durch sie, auch der Name meiner Väter Abraham und Isaak. Im Land sollen sie sich tummeln, zahlreich wie die Fische im Wasser.»
Damit ist klargestellt, dass der jüngere der beiden Brüder, Efraim derjenige sein wird, der die Prophezeiungen Gottes erfüllen wird. Israel gibt dem Zweitgeborenen das Erstgeburtsrecht, das er sich als Zweitgeborener erschlichen hatte und dafür viele Jahre lang gebüsst hat.
Ein letztes Mal versammelt Israel seine Söhne um sich und verteilt sein «Erbe» unter sie. Und er geht hart mit ihnen ins Gericht, macht ihnen Vorwürfe, verflucht sie oder sagt ihnen Nichtigkeiten.
Nur Juda, Josef, Efraim und Menashe erhalten einen besonderen Segen. Segen in der Thora haben eine besondere Bedeutung, die manchmal weit über die eigentliche Generation hinausgeht. Sowohl «gute», als auch «problematische» Segen sind oft das letzte, was Kindern von ihren Eltern bleibt. Sie übernehmen unbewusst die ihnen dadurch zugeschriebenen Bedeutungen. Entsprechende Charakterzüge können durch den Segen verstärkt oder auch abgeschwächt werden.
Israel verstarb und Josef erbat von Pharao die Gunst, das seinem Vater gegebene Versprechen zu erfüllen und ihn in der Höhe Machpela in der Nähe von Hebron zu beerdigen. Und so reiste, nach einer angemessenen Trauerzeit, der ganze Familienclan, begleitet von hochrangigen ägyptischen Beamten nach Kana’an und bettete ihn dort zur letzten Ruhe.
Zurückgekehrt nach Ägypten verspüren die Brüder auf einmal Angst. Sie fürchten, dass Josef, der nun das Familienoberhaupt ist, seinen Zorn gegen sie richten könne. Seit dem Tod des Vaters gibt es keine schützende Hand mehr, die den berechtigten Zorn des Bruders von ihnen fernhält. Es ist eine Notlüge, als sie behaupten, der Vater hätte ihnen aufgetragen, ihm seinen letzten Wunsch zu übermitteln. Der sei gewesen, Josef möge seinen Brüdern verzeihen. Eine verzeihliche Lüge und so menschlich.
Doch Josef nimmt ihnen ihre Angst. Ein zweites Mal hält er fest, dass er nur das Werkzeug Gottes ist, aber nicht an dessen Stelle vor ihnen steht. Gott hätte sie ihre schändliche Tat ausführen lassen, um das Leben des Clans zu erhalten und den Stamm wachsen zu lassen und dadurch die mehrfach ausgesprochene Prophezeiung zu erfüllen.
Josef war es noch vergönnt, seine Enkel und sogar seine Urenkel kennenzulernen, bevor er verstarb. Er gab die Absichten und Pläne Gottes an seine Brüder weiter, der sie schützen und in das Land begleiten würde, dass er den Vorfahren versprochen habe. Josef wusste, es würde eine lange Reise sein, die den Brüdern bevorstand. Deshalb bat er sie, seine Gebeine in die nördliche Heimat mitzunehmen.
Shabbat Shalom