Wir sind das Volk!

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Zugegeben, Deutschland ist vielleicht nicht gerade das Land, das eine Vorbildfunktion für Israel hat. Auch nicht 75 Jahre nach Kriegsende und auch nicht, nachdem im Jahr 2008 Bundeskanzlerin Angela  Merkel anlässlich ihrer denkwürdigen Rede vor der Knesset «Die Sicherheit Israels zum Teil der Staatsraison Deutschlands» erhob.

Allerdings könnte es durchaus Vorbild für die frustrierte, enttäuschte und verarmte israelische Gesellschaft sein, was zwischen September 1989 und März 1990 in Leipzig und anderen Städten der damaligen DDR einen friedlichen politischen Umschwung herbeiführte. Mit der Parole «Wir sind das Volk!» forderten die Bürger bei Massenprotesten eine politische Neuordnung und Wiedereinführung der individuellen Bürgerrechte. Am 9. November 1989 hatte der Fall der Berliner Mauer bereits das nahe Ende der Diktatur im ehemals russisch besetzten Teil Deutschlands eingeläutet. Die Proteste endeten mit den ersten freien und gleichzeitig letzten Wahlen in der DDR am 18. März 1990.

JEZT-Montagsdemo-vom-9-Oktober-1989-Foto-©-Stadt-Leipzig

Montagsdemo in Leipzig Oktober 1989 © screenshot Jena20

Ein grosser Unterschied zwischen der damaligen DDR und dem heutigen Israel ist, dass es hier keine Stasi gibt. Unser Inland-Sicherheitsdienst schützt uns vor Terror, und nicht die Regierung vor dem Volk.

Seit ich gestern in einem Newsletter einer extrem rechten, zionistischen NGO folgenden Satz las: «Ich habe keinen Zweifel daran, dass unsere Mitarbeiter, Aktivisten und Freiwillige die Elite Kommandos sind , um Israel an vorderster Front zu verteidigen.» so habe ich meine Zweifel, ob es noch sehr lange dauern wird, bis auch bei uns Männer im dunklem Mantel im Morgengrauen an die Türen klopfen. Oh ja, man darf diese Gruppe, entsprechend einem Gerichtsurteil von 2013 durchaus in die ideologische Nähe zum Faschismus rücken. Und nein, ich werde die Gruppe hier nicht benennen, denn ich habe wirklich keine Lust darauf, ins Fadenkreuz dieser Organisation zu geraten!

Wie positionierte sich Herzl, als er 1902 seinen Roman Altneuland schrieb? Fraglos als Zionist. Die Gesellschaftsform des damals fiktiven Staates zeigt deutlich genossenschaftliche Züge, es gibt aber daneben auch Privateigentum. Die «Neue Gesellschaft für die Kolonisierung von Palästina» regelt die gesamten wirtschaftlichen, soziodemokratischen und politischen  Strukturen.

Die Vorstellung Herzls, dass niemand sich für ein öffentliches Amt, also auch nicht für die Regierung bewerben darf, scheint utopisch. Schaut man aber genauer hin, so zeichnet er dort ein Bild, dass ich mir für unser heutiges Israel dringend wünschen würde. Niemand darf einen Wahlkampf führen, der führt zur Disqualifikation. Gewählt wird der, der die besten Voraussetzungen für das Amt mitbringt, entsprechend seiner Ausbildung, Leistung und Persönlichkeit.

Was hat die Persönlichkeit eines Politikers mit seiner (erhofften und erwünschten) Leistung zu tun? Welche Voraussetzungen braucht er? Platon hat es gut erkannt und formuliert. Kaum eine modernes Managerseminar, anlässlich dessen er nicht zitiert würde.

Die nachfolgende Skizze, die ich dem  Blog von Conny Dethloff entnommen habe, ich selbsterklärend. In diesem Blog wird der Denkansatz von Platon unter dem Thema «Eigenschaften einer guten Führungskraft» erläutert.

https-::blog-conny-dethloff.de:?p=2661

Nimmt man die drei Bilder, die der friedlichen Demonstrationen, die in der alten DDR zum gewaltfreien Umschwung führten und die  Forderung nach hochqualifizierten Politikern mit einem entsprechenden Persönlichkeitsprofil zusammen und wagt den Versuch, diese auf das Israel im Jahr 2020, inmitten der zweiten Corona Welle zu übertragen, so steigt zweierlei auf: Wut und Hoffnung.

Unsere Regierung, allen voran ein PM, der sich mehr und mehr als autokratischer Führer versucht zu etablieren besteht aus «guten Freunden». Unser PM, der, so wie kein anderer Mensch höchst effizient Klebstoff auszuscheiden scheint, der ihn an seinem Sessel festhält und Parteigenossen, die grossteils keine entsprechende Qualifizierung zu haben, hilflos versuchen, ihre Ministerien zu managen.

Aber, sie verfügen über eine vom PM durchaus erwünschte und geförderte Eigenschaft: Sie folgen ihm wie die Lemminge.

Es sind nicht nur die Politiker, es sind auch die Wähler, die blind und blauäugig immer wieder die gleichen Personen und deren Politik wählen. Auch sie zeigen das Herdenverhalten der kleinen Nagetiere.

Gerade in den letzten Wochen und Tagen, seit die zweite Welle von Corona hier im Land wieder mit voller Härte anrollte, müssen wir tagtäglich sehen, welche planlosen und grossteils auch widersprüchlichen Entscheidungen uns präsentiert werden.

Hier nur ein Beispiel:

Am vergangenen Donnerstag, 16. Juli 2020 wurde verkündet, dass mit Wirkung vom nächsten Tag ab 17 Uhr alle Restaurants, Bars, Caféhäuser etc. bis auf Weiteres geschlossen werden. Lediglich eine Essensauslieferung und ein ohne persönlichen Kontakt abzuwickelndes Take-out war weiterhin möglich. Einige Unternehmen verkündeten daraufhin, dieser Anweisung nicht folgen zu wollen. Die wirtschaftlichen Schäden des ersten Lockdowns seien noch nicht überwunden. Andere protestierten, sich das gar nicht leisten zu können, ihre Lager seien gefüllt und die Mitarbeiter stünden bereit. Am Freitag um 16 Uhr kam die nächste Anweisung. Um Härtefälle zu vermeiden, dürften die Betriebe bis Dienstag, als bis morgen um 15 Uhr geöffnet bleiben. So könne man die Lagerbestände abarbeiten und Mitarbeiter geordnet freistellen oder entlassen. Und heute am Montag kam die dritte Information. Nun darf alles in der Gastronomie weiterlaufen, wie bisher…

Wie gesagt, das ist nur ein Beispiel. Es gibt weitere unzählige.

Mittlerweile geht das Volk allabendlich auf die Strasse. Zehntausende demonstrieren in Jerusalem und Tel Aviv und fordern, dass unser PM, der sich neben seinem Missmanagement der Coronakrise auch noch mit seinem Gerichtsfall beschäftigen muss, endlich zurücktreten soll. Sie verlangen klare Vorgaben, wie die weiteren Massnahmen sein werden, um das Virus, der derzeit bis zu 1.900 Neuinfektionen täglich verursacht, einzudämmen. 28% der Bevölkerung sind arbeitslos.

Und was kommt aus Jerusalem?

Nichts!

Da wird munter über die Entlassungen von Ministern, in diesem Fall von Finanzminister  Ysrael Katz, gestritten. MK Miki Zohar, der Scharfmacher und Vorsitzende der Koalition hat dies jedenfalls heute Vormittag lautstark gefordert. Beide, Zohar und Katz wurden inzwischen zum PM einberufen.

Nun ja, Politiker kann man vielleicht auf diese Art ruhigstellen. Die Menschen, die Abend für Abend demonstrierend durch die Strassen ziehen, wohl nicht.

Für die hat sich der zukünftige Autokrat eine andere Form der Besänftigung ausgedacht. Er hat das römische «panem et circenses» umgewandelt in «panem et pecuniam». Jeder Israeli über 18 Jahre soll ein «Bonbon» in Höhe von NIS 750,– ( € 200,–) erhalten, für jedes der ersten drei Kinder gibt es weitere NIS 500,– (€ 130,–). Alle weiteren Kinder gehen leer aus. Alles in allem belastet dieser Zustupf das israelische Budget mit NIS 6 Milliarden. Woher das Geld kommen soll, weiss niemand.

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Ein Staat galoppiert auf einen Abgrund zu. Der Abgrund wird tief sein und wird uns, die wir in vielen Bereich bereits jetzt die rote Laterne des Schlussmannes der OECD Länder tragen, noch tiefer in die Misere treiben.

Israel wird nach dieser doppelten Krise nicht mehr dasselbe sein.

Meine Wut richtet sich gegen die, die vorgeben uns zu regieren, und dabei in Wahrheit nur sich selber gegenseitig auf die Schultern klopfen oder verbal verprügeln.

Meine Hoffnung richtet sich auf die, die hoffentlich in den Oppositionsreihen endlich begreifen, dass es ihre Aufgabe ist, uns mittels Vertrauensfrage und nationalem Ungehorsam von den Regierungsignoranten zu befreien.

Und meine Hoffnung richtet sich auf das Volk, dass es satt hat, nur mehr eine Herde von Lemmingen zu sein und das sich endlich emanzipiert. Die Demonstrationen sind ein guter Beginn!

 

© esther scheiner, israel

 

 

 

 

 

 

 

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